Das Hängende Widerhakenmoos (Antitrichia curtipendula) ist das Moos des Jahres 2024
Das Hängende Widerhakenmoos bildet große grüne Polster auf Blockschutt oder auf der Rinde von Laubbäumen. Durch den Standort, die kräftigen Polster, die rot durchscheinenden Stängel, vor allem aber durch die an der Blattspitze rechtwinklig abstehenden Zähne ist die Art gut kenntlich.
Aussehen
Die Art bildet bis zu etliche Quadratdezimeter große, grüne bis dunkelgrüne, lockere Decken oder Hängerasen. Die aus den fadenförmigen Primärstämmchen entspringenden niederliegenden bis hängenden, bis zu 20 cm langen Sekundärsprosse sind unregelmäßig und entfernt fiederig beastet. Die 2,5‒3 mm langen Blätter liegen dem rotbraunen Stängel an oder stehen leicht ab, besonders an den Sproßspitzen sind sie oft leicht einseitswendig. Sie sind am Rand schmal umgebogen, besitzen einen herzförmigen Grund und eine lang ausgezogene scharfe Spitze. Der Rand ist vor allem gegen die Spitze scharf rechtwinklig abstehend bis zurückgebogen gezähnt (gute Lupe!). Die einfache, kräftige Rippe erreicht etwa drei Viertel der Blattlänge, an der Blattbasis finden sich meist einige kurze Nebenrippen. Die Blattzellen sind verlängert rhombisch bis linealisch, in den undeutlich abgesetzten Blattflügeln kurz rechteckig bis quadratisch, am Blattgrund rötlich verfärbt. Die selten zu beobachtenden ellipsoiden Kapseln stehen auf einem bis zu 12 mm langen glatten Kapselstiel (Seta).
Verwechslungen sind möglich mit anderen lockerrasigen Großmoosen, etwa mit dem Großen Hainmoos (Hylocomium brevirostre), Schönschnabelmoosen (Eurhynchium spp.) oder Kranzmoosen (Rhytidiadelphus spp.). Die Kombination der Merkmale roter Stängel, lang ausgezogene Blattspitze, einfache kräftige Blattrippe und rechtwinklig bis zurückgebogene Zähne am Blattrand ist jedoch eindeutig. Die sehr ähnliche Antitrichia californica hat in Europa eine mediterrane Verbreitung und kommt in Mitteleuropa (noch?) nicht vor; zu den Unterschieden siehe etwa Hugonnot (2008).
Ökologie
Antitrichia curtipendula tritt sowohl an der Rinde von Bäumen (epiphytisch) als auch auf Gestein (epipetrisch) auf. Die epiphytischen Vorkommen finden sich an Bäumen mit basenreicher Borke, so an Ahornen oder Eschen, sowohl am Stamm wie auch an größeren Ästen. Epipetrisch wächst sie auf Gesteinsblöcken, gerne in Blockhalden (Gneis, Kalk, seltener Sandstein, Granit). Gemeinsam ist den mäßig trockenen, basenreichen Standorten die geringe bis mäßige Beschattung und die luftfeuchte Lage in Gebieten mit höheren Niederschlägen. Sie ist die namengebende Art der Gesellschaft des Antitrichietum curtipendulae im Verband Antitrichion curtipendulae (Rinden-Moosgesellschaften in geschlossenen Waldbeständen, vorwiegend montan-subalpin).
Die Art ist sehr empfindlich gegenüber Luftschadstoffen (Sauer & Philippi 2000).
Verbreitung und Gefährdung
Antitrichia curtipendula im weiteren Sinne ist disjunkt in Nordamerika, Europa, den Kanarischen Inseln, Ostafrika und Taiwan verbreitet (Hedenäs 2008). Im engeren Sinne fallen die Bestände an der nordamerikanischen Westküste heraus, die zur nahe verwandten Art A. gigantea zählen, während die Bestände an der nordamerikanischen Ostküste zu A. curtipendula gehören.
In Europa besitzt die Art eine leicht atlantische Verbreitung mit einzelnen Vor- (oder Rest-)Posten im kontinentalen Bereich. Die Vorkommen häufen sich im westlichen Teil (Island, Britische Inseln, westliches Skandinavien, Spanien, Portugal, Frankreich) und klingen nach Osten aus. Interessanterweise kommt die Art nach einer Verbreitungslücke in Osteuropa wieder an der regenreichen Ostküste des Schwarzen Meeres vor und fehlt dann abgesehen von Taiwan in ganz Asien. In Mitteleuropa kommt sie von der Ebene bis ins hohe Gebirge vor. Eine Verbreitungskarte für Deutschland findet sich bei Meinunger & Schröder (2007), in der sich die enge Bindung der aktuellen Funde an die Gebirge zeigt.
Ein Vergleich mit den Karten jährlicher Niederschläge zeigt, dass sie weltweit eine starke Präferenz für Gebiete mit über 1000 mm Jahresniederschlag zeigt. Sie kommt jedoch auch in niederschlagsärmeren Gebieten vor (vor allem in Südschweden); möglicherweise weicht sie hier in regional- oder lokalklimatisch feuchtere Lagen aus.
Wegen ihrer hohen Empfindlichkeit gegenüber Luftschadstoffen ist die Art bereits Ende des vorletzten Jahrhunderts, dann aber vor allem in der zweiten Hälfte des letzten Jahrhunderts stark zurückgegangen und hat sich in die Gebirgslagen zurückgezogen (u.a. Frahm 1998). Außerhalb der Gebirge sind die epiphytischen Vorkommen nahezu völlig verschwunden, überdauern konnte die Art hier nur noch vereinzelt an Felsblöcken. Wegen des anderen Abflussverhaltens des Regens und der abpuffernden Wirkung des Gesteins sind auf Gestein wachsende Vorkommen von Moosen generell weniger empfindlich gegenüber sauren Niederschlägen als epiphytische. Die Karte bei Meinunger & Schröder (2007) zeigt eindrucksvoll, dass im gesamten Norddeutschen Flachland fast nur historische Vorkommen zu finden sind; die wenigen rezenten Vorkommen sind neuen Datums. Zudem beschränken sich fertile Vorkommen, die also Sporenkapseln ausbilden, weitgehend auf die höheren Gebirge. Neben den Luftschadstoffen spielen die großflächige Entwässerung der Landschaft und der Umbau der Wälder in Nadelholzmonokulturen sicher auch eine Rolle beim Rückgang der luftfeuchteliebenden Art.
Seit der Jahrhundertwende wird gelegentlich ein Wiederauftreten der Art aus einzelnen Gebieten Mitteleuropas berichtet, so aus Brandenburg (2012 zwei Wiederfunde seit 1939; Müller 2013) oder aus Sachsen (2014 5 Wiederfunde seit 1923; Biedermann et al 2014). Zweifellos haben sich die lufthygienischen Bedingungen hinsichtlich der Belastung mit Schwefelverbindungen in dem Zeitraum deutlich verbessert, so dass mit einer Wiederausbreitung der Art gerechnet werden kann. Dem steht allerdings die Schwierigkeit entgegen, dass die wenigen Vorkommen außerhalb der Gebirge kaum oder nie Sporogone bilden und damit eine Fernverbreitung so gut wie ausgeschlossen ist. Inwieweit die Wiederfunde auf Neuansiedlungen zurückzuführen sind oder ob es sich um neue Entdeckungen überdauernder Kleinstpopulationen handelt, ist schwierig zu entscheiden. Keinesfalls handelt es sich jedoch um ein massives Einwandern wie bei manchen reichlich fruchtenden Orthotrichum-Arten oder einigen Flechten, wie beispielsweise Normandina pulchella, der Flechte des Jahres 2024.
Auf den Roten Listen wird die Art unterschiedlich eingestuft: Deutschland (2018): 3 (gefährdet), Österreich (1999): 3, r2 (gefährdet, regional stark gefährdet), Schweiz (2004): LC (nicht gefährdet). Auf den Länderlisten Norddeutschlands ist die Gefährdung stärker angegeben: Mecklenburg-Vorpommern (2009): 1 (vom Aussterben bedroht), Schleswig-Holstein (2002): 1 (vom Aussterben bedroht), Niedersachsen (2011): 2 (stark gefährdet), Sachsen-Anhalt (2020): R (extrem seltene Arten mit geographischer Restriktion). In Süddeutschland ist die Bedrohungslage zumindest teilweise weniger dramatisch: Bayern (2019): 2 (stark gefährdet; Alpen: * = ungefährdet, außerhalb der Alpen: 1 = vom Aussterben bedroht), hier auch ein starker Rückgang im kurzfristigen Bestandstrend! In Baden-Württemberg (2005): 3 (gefährdet).
Biologie
Antitrichia curtipendula verbreitet sich generativ durch Sporen. Die Bildung von Sporogonen ist allerdings bei schlechten Umweltbedingungen unterdrückt, dann kann nur noch eine (ineffektive) Nahverbreitung über Sprossbruchstücke erfolgen.
Externe Links
https://www.gbif.org/species/2678391
https://de.wikipedia.org/wiki/Antitrichia_curtipendula
https://www.swissbryophytes.ch/index.php/de/verbreitung?taxon_id=nism-595
https://www.britishbryologicalsociety.org.uk/wp-content/uploads/2020/12/Antitrichia-curtipendula.pdf
Literatur
Biedermann, S., Müller, F. & Seifert, E. 2014. Neu- und Wiederfunde für die Moosflora Sachsens. ‒ Herzogia 27(1): 215‒219.
Frahm, J.-P. 1998. Bemerkenswerte Moosvorkommen in der Umgebung Bonns. ‒ Decheniana 151: 95‒107.
Hugonnot, V. 2008. Antitrichia californica Sull. (Leucodontaceae) in France. Identification, distribution, habitat and communities. ‒Cryptogamie, Bryologie 29(4): 359‒385. URL: https://sciencepress.mnhn.fr/sites/default/files/articles/pdf/cryptogamie-bryologie2008v29f4a2.pdf
Meinunger, L. & Schröder, W. 2007. Verbreitungsatlas der Moose Deutschlands. − 3 Bde., Regensburg.
Müller, J. 2013. Antitrichia curtipendula (Hedw.) Brid. zurück in Brandenburg. ‒ Limprichtia 30(3): 1‒5.
Philippi, G. 2001. Leucodontaceae. – In: Nebel, M. & Philippi, G. (Hrsg.) Die Moose Baden-Württembergs, Bd. 2: 220‒224.
Sauer, M. & Philippi, G. 2000. Moose als Bioindikatoren. – In: Nebel, M. & Philippi, G. (Hrsg.): Die Moose Baden-Württemberg, Bd. 1: 28‒34.
Fotos von Antitrichia curtipendula
Durch Anklicken der Bilder öffnet sich jeweils eine größere bzw. vollständige Bild-Version.
Ein frisches, gut durchfeuchtetes Polster von Antitrichia curtipendula auf Kalkfelsen bei Plech/Oberpfalz (Wolfgang von Brackel).
Bildtafel Antitrichia curtipendula (Frahm, J.-P., Stapper, N.J., Franzen-Reuter, I., 2007: Epiphytische Moose als Umweltgütezeiger. Ein illustrierter Bestimmungsschlüssel. - Kommission Reinhaltung der Luft im VDI und DIN - Schriftenreihe Band 40. Düsseldorf, 152 S., davon 80 ganzseitige Farbtafeln).
Abb. 13: Sprossspitzen von Antitrichia curtipendula (Norbert Stapper).
Habitat von Antitrichia curtipendula in einer Blockschutthalde im Wald am Peilstein/Oberpfalz (Wolfgang von Brackel).
Epiphytisches Vorkommen von Antitrichia curtipendula in der Wutachschlucht/Schwarzwald (aus Lüth 2019, Mosses of Europe).
Antitrichia curtipendula, trocken; Detail. Schladminger Tauern/Steiermark (Christian Berg).
Antitrichia curtipendula, trocken; Detail, Buchenbach/Schwarzwald (Michael Lüth)