Verbesserte Luftgüte führt zur Rückkehr sensibler Moos- und Flechtenarten

Das Schöne Muschelschüppchen (Normandina pulchella) und das Hängende Widerhakenmoos (Antitrichia curtipendula) sind Flechte und Moos des Jahres 2024

Wolfgang von Brackel & Norbert Stapper

Die Wahl fiel dieses Jahr auf zwei Arten, die nach massiven Bestandseinbußen während der Zeiten hoher Belastung der Luft mit Schadstoffen nun wieder eine, wenn auch unterschiedlich starke, Zunahme erkennen lassen. Dies ist dem Wunsch geschuldet, mit den Arten eine positive Botschaft zu übermitteln ‒ leider geht dies auch nicht ohne Wermutstropfen ab.

Warum sind Flechten und Moose gegenüber Luftschadstoffen so empfindlich? Im Gegensatz zu Höheren Pflanzen besitzen sie kein effektives Abschlussgewebe und nehmen Wasser mit der gesamten Oberfläche auf. Insbesondere die epiphytischen, d.h. die auf der Rinde lebender Bäume wachsenden Arten sind für ihre Wasserversorgung allein auf den Regen bzw. Tau angewiesen und haben sich durch eine rasche Wasseraufnahme bei der ersten Benetzung an diese Mangelsituation angepasst. Dadurch bekommen sie aber auch die besonders hohe Schadstofffracht der ersten Regen- oder Nebeltropfen ab, wenn die Luft noch nicht ausgewaschen ist. Zudem sind Moose und Flechten auch oder gerade im Winterhalbjahr aktiv, wenn die Luft durch Hausbrand und Inversionslagen besonders hoch belastet ist. Alle Arten leiden darunter, manche kommen damit einigermaßen zurecht, andere gar nicht. Unsere beiden Arten des Jahres gehören zu der letzteren Gruppe.

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(Normandina pulchella, Foto: N. Stapper).

Auch schon vor der Industrialisierung waren Braun- und Steinkohle verfeuert worden, doch erst mit deren massenhaftem Einsatz in der Industrie und zur Stromerzeugung sowie dem Bau hoher Schornsteine griffen die Emissionen, allen voran Schwefeldioxid, weit ins Umland der Städte und zeigten hier ihre verheerenden Wirkungen. Jetzt traten die empfindlichen Epiphyten nicht nur in den Städten und in ihrem Umgriff, sondern im ganzen Land außerhalb der Gebirge ihren Rückzug an. Das war die Zeit des Sauren Regens und der Epiphytenwüsten. Durch Rauchgasentschwefelung und das Verfeuern schwefelarmer Brennstoffe wurden die Schwefeldioxidimmissionen erheblich reduziert, und mit Beginn der 1990er begannen viele Flechten und Moose mit der Wiederbesiedlung der Städte. Für Arten, die leichte Diasporen erzeugen (sexuell erzeugte Sporen, vegetativ erzeugte Soredien und Brutkörperchen) sind größere Distanzen leicht zu überbrücken. Die Bedingungen am Zielort entscheiden, ob eine dauerhafte Ansiedlung gelingt. Viele Moose aus der Gattung Orthotrichum konnten so wieder von den Roten Listen gestrichen werden, ebenso etliche Blattflechten und selbst Bartflechten aus der Gattung Usnea. Die Staubige Kuchenflechte (Lecanora conizaeoides) jedoch, die aufgrund ihrer hohen Toleranz gegenüber Säureeintrag oft als einzige Flechtenart ausgeharrt hatte, verschwand sehr rasch und ist heute nur noch an natürlich sehr sauren Standorten zu finden. Tatsächlich verlief diese Wiederbesiedlung jedoch nicht wie die Auslöschung, also lediglich mit umgekehrtem Vorzeichen, sondern gegenüber düngenden Luftschadstoffen (z. B. Stickoxide, Ammoniak) tolerante oder durch solche Substanzen sogar begünstigte Flechten und Moose hatten und haben die Nase vorn. Als eine Folge des Klimawandels werden einige Arten, die bislang in Deutschland selten waren oder hier zuvor nie gefunden wurden, immer häufiger und breiten sich in der Regel von Süden nach Norden und von Westen nach Osten aus. Das betrifft insbesondere Flechten, von denen einige inzwischen sogar in standardisierten Verfahren als Klimawandel-Indikatoren eingesetzt werden.

In unseren Dauerbeobachtungsprojekten oder bei der Mitwirkung an den Roten Listen zeigt sich, dass die seit rund 20 Jahren zu beobachtende Rückkehr zuvor ausgelöschter oder stark gefährdeter Arten wieder ins Stocken gerät. Dies betrifft auch solche Arten, deren Reproduktionsfähigkeit außerhalb der Reinluftgebiete eingeschränkt ist, weil sie dort keine Sporen produzieren oder Arten, die nur an historisch alten Waldstandorten vorkommen.

Der massive Eintrag von eutrophierenden Stickstoffverbindungen bewirkt, dass weit verbreitete, nährstofftolerante Arten die selteneren, an nährstoffarme Verhältnisse angepassten Arten verdrängen. Das fördert zum Beispiel Allerweltsmoose wie das Raustielige Kurzbüchenmoos (Brachythecium rutabulum) oder die Wand-Gelbflechte (Xanthoria parietina) und verdrängt Nährstoffe meidende Arten wie den Braunen Moosbart (Bryoria fuscescens).

16 Antitrichia curtipendula 002d(Antitrichia curtipendula, Foto: W. von Brackel)

Dürreperioden von mehreren Wochen oder sogar Monaten sorgen auch unter epiphytischen Moosen und Flechten für Schäden oder zumindest Konkurrenznachteile bei den feuchteliebenden Arten. Für manche Arten dürfte der Zug der Rückkehr allerdings für immer abgefahren sein, denn die für sie geeigneten Lebensbedingungen stellen sich an dem früher von ihnen besiedelten Standort gar nicht mehr ein. So ist z. B. ein zum Ende des 19. Jahrhunderts noch enorm flechtenreicher, historisch alter Waldstandort im nordrhein-westfälischen Münsterland heute im Mittel fast zwei Grad wärmer als damals. Das entspricht einem Höhenunterschied von fast 400 Metern! Selbst bei ähnlichen Niederschlagssummen wäre für trockenheitsempfindliche Arten der Stress heute höher als damals. Zudem ist dort in den zurückliegenden Jahrzehnten der Grundwasserspiegel gesunken, und es ist ungewiss, ob bzw. wann er wieder steigt. Durch den Klimawandel sind gerade die ozeanischen Arten erneut von einer Bedrohung betroffen, die wohl jede Hoffnung zunichtemacht, dass etwa die Lungenflechte (Lobaria pulmonaria) wieder in ihr angestammtes Areal in Mitteleuropa außerhalb der Gebirge zurückkehrt.