Die Gewöhnliche Mauerflechte, Lecanora muralis, ist die Flechte des Jahres 2021

Die Gewöhnliche Mauerflechte ist zumindest an ihren anthropogenen Standorten durch ihre großen, grünlich-weißen und dicht mit Fruchtkörpern besetzten Rosetten kaum mit einer anderen Art zu verwechseln. Sie wächst an Gestein sowohl an natürlichen Standorten wie auch im Inneren der Städte auf Pflaster, Asphalt und an Mauern, selten auch am eutrophierten Stammfuß von Bäumen und auf Holz.

Aussehen

Ihre grünlich-weißen, im feuchten Zustand grünlichen Lager erreichen mehrere Zentimeter, bei ungestörtem Wachstum auch bis zu zwei Dezimeter Durchmesser. Sie bestehen aus eng dem Substrat anliegenden Rosetten 2 Lecanora muralis Roettenbach 2020 11 1 smallmit knapp 1 mm breiten, langgestreckten, flachen bis leicht konkaven, oft randlich helleren Randlappen. Sehr alte Exemplare sterben im Inneren ab und bilden dann ringförmige Lager, innerhalb derer sich wieder neu, kleinere Lager entwickeln können.

Im Inneren des Lagers stehen die gehäuft und oft fast die ganze Lagerfläche bis auf die Randzone bedeckenden beigen oder vor allem im Alter bräunlichen Fruchtkörper mit meist helleren Rändern. Sie haben etwa 1,5 mm Durchmesser und sind primär rund, bei engem Stand verformen sie sich aber gegenseitig. Ihre Sporen sind unspektakulär ellipsoid, farblos und ca. 9–15 × 5–7 Mikrometer groß.

Ökologie

Die Gewöhnliche Mauerflechte ist (wie der Name bereits sagt) vorwiegend ein Gesteinsbewohner mit einer Bevorzugung von kalkhaltigen und/oder staubimprägnierten Substraten. Natürliche Standorte sind vor allem niedrige Felsen oder größere Kiesel, gern kommt sie an den gedüngten Vogelsitzplätzen vor. Im Siedlungsbereich wächst sie an Mauern und Zaunpfosten, Dachziegeln, auf Pflaster aller Art (gern auf Waschbeton) oder auch auf wenig befahrenem Asphalt. Seltener kommt sie auf bearbeitetem eutrophiertem Holz vor. Sie ist tolerant gegenüber Trockenheit und Schadstoffen, aber nährstoff- und lichtbedürftig.

Verbreitung und Gefährdung

Lecanora muralis ist weltweit verbreitet und kommt in Europa vom Sizilien bis nach Spitzbergen sowie vom Flachland bis ins hohe Gebirge vor.

Wegen ihrer weiten Verbreitung, der hohen Toxitoleranz und des Vorkommens auf reichlich vorhandenem Substrat ist die Art sicher nicht gefährdet. Als Profiteur der Eutrophierung und der rasant fortschreitenden Versiegelung der Landschaft dürfte sie im Gegenteil in Zukunft weiter zunehmen. Auch die zunehmende Erwärmung und die in Zukunft wohl öfter auftretenden Dürreperioden werden der sehr trockenheitsresistenten Art nicht schaden.

Biologie

Die Gewöhnliche Mauerflechte verbreitet sich über Ascosporen, die in den vielen Apothecien zahlreich gebildet werden. Die Sporen haben offenbar keine Mühe, auf geeigneten Substraten ihren Symbiosepartner (Algen der Gattung Trebouxia) zu finden. Wie die meisten Gesteinsflechten wächst Lecanora muralis sehr langsam, sie erreicht ein Wachstum (Vergrößerung des Radius) von 1–3 mm im Jahr4). Dies ist natürlich abhängig von der Nährstoffversorgung, in den Innenstädten und im intensiv landwirtschaftlich genutzten Raum liegt es sicher an der oberen Grenze.

Sie enthält neben anderen sekundären Metaboliten (Inhaltsstoffen) als bekanntesten Usninsäure.

Die Art ist sehr variabel und spaltet sich vor allem im Mittelmeergebiet in etliche Varietäten auf. Möglicherweise gehören auch die Populationen auf natürlichen Felsen der höheren Gebirge einem anderen Ökotyp an als die der Städte.

Parasiten, Nutzung und Inhaltsstoffe

Lecanora muralis ist als Wirt einer Vielzahl flechtenbewohnender Pilze bekannt: Arthonia protoparmeliopseosA. subvariansCercidospora macrosporaC. pluriseptataDacampia muralicolaDactylospora homoclinellaEpithamnolia xanthoriaeLichenoconium lecanoraeLlimoniella muralicolaMuellerella erraticaParalecia pratorumPleospora bernadetaeRoselliniella muralisSarcopyrenia cylindrosporaSpirographa limaciformisStigmidium squamariaeToninia subfuscae und Unguiculariopsis thallophila.

Über die Nutzung der Flechte ist nicht viel bekannt. Wegen der antioxidativen, antimikrobiellen und cytostatischen Wirkung ihrer Inhaltsstoffe2) 3)  könnte sie wohl auch medizinisch genutzt werden, dem standen bislang jedoch das relativ langsame Wachstum und die schwierige Ernte entgegen. Immerhin ist es jetzt einem Team von Wissenschaftlern an der TU Berlin gelungen, Lecanora muralis aus Sporen und Algen zu rekombinieren und zu kultivieren. Dies eröffnet ganz neue Möglichkeiten der Gewinnung antimikrobieller Wirkstoffe1).

Darüber hinaus kann die weit verbreitete Flechte als Biomonitor für Spurenmetalle verwendet werden.5)

Kurioses

Am 11.02.2014 war im Donaukurier unter der Überschrift "Seltsame Flecken auf der Terrasse – Wolnzacher Bürger beobachtet eine zunehmende Verschmutzung aus der Luft und tippt auf undichte Flugzeugklos" zu lesen: 

Die Ursache sind seltsame Flecken, die er auf dem Steinbelag seiner Terrasse immer wieder findet. „...macht der 55-Jährige aus Wolnzach im Kreis Pfaffenhofen sich schon länger Sorgen. "Das sind grünlich-weiße Stellen, die wie eingeätzt wirken“, sagt der Garten- und Landschaftsbautechniker. ... "Weil ich beruflich viel draußen bin, habe ich mal die Trasse, auf der die Flugzeuge über der Marktgemeinde unterwegs sind, am Boden genauer angeschaut. Ich bin erschrocken, wie viele dieser komischen Flecken ich gefunden habe. Beim Spazierengehen mit dem Hund bin ich auf immer neue Verschmutzungen gestoßen, auch draußen beim Sportverein, wo ich Jugendtrainer bin.“ Das ziehe sich wie ein Band durch den Ort, von Südost nach Nordwest – „genau wie die Fluglinien sind“. Die seltsamen Tropfen scheinen sich tief ins Steinmaterial zu ätzen und sind noch nach vielen Monaten zu sehen. Sie bilden mit der Zeit eine kristallisierte Schicht. „Ich kann das nur mit der Spachtel entfernen“, sagt der 55-Jährige. 

Das schlug hohe Wellen und auch andere Zeitungen nahmen die Meldung auf. Jetzt dürfen Sie drei Mal raten, was das war, was der Garten- und Landschaftsbautechniker für Exkremente hielt.

Bei den Briten heißt die Flechte "chewing-gum lichen" da sie vom Aspekt her den Kaugummiflecken auf dem Pflaster der Fußgängerzonen ähnelt.

Beseitigen oder nicht?

Den Biologen freut es natürlich, auf den (vom Vorbesitzer ererbten) Waschbetonplatten im Garten die großen Rosetten von Lecanora muralis wachsen zu sehen. Hier wird aus der toten Oberfläche des Kunststeins eine biologisch aktive, die Sonnenlicht einfängt, CO2bindet und Sauerstoff freisetzt. Richtet die Flechte Schaden an? Am Stein bestimmt nicht, hier wird schlimmstenfalls der oberste Millimeter leicht angegriffen, um der Flechte Halt zu geben. Bei Regen mag es ein wenig rutschiger werden, aber die Flechte kommt ja eher auf wenig betretenen Flächen vor. Und die Ästhetik ist nur eine Sache der Einstellung.

 

Links

1) Pressemitteilung TU Berlin, 22.07.2020, URL: https://www.tu.berlin/ueber-die-tu-berlin/profil/pressemitteilungen-nachrichten/2020/juli/flechten/

https://de.wikipedia.org/wiki/Lecanora_muralis

Literatur

Edwards, B., Aptroot, A., Hawksworth, D.L. & James, P.W. 2009. Lecanora Ach. in Luyken (1809). – In: Smith, C. W., Aptroot, A., Coppins, B. J., Fletcher, A., Gilbert, O. L., James, P. W. & Wolseley, P. A. (Eds). The Lichens of Great Britain and Ireland. – British Lichen Society, London: 465–502.

4) Hill, D. J. 1981. The growth of lichens with sepcial reference to the modelling of circular thalli. – The Lichenologist 13 (3): 265–287.

5) Lambrecht, S. 2001. Lecanora muralis: eine epilithische Krustenflechte als Biomonitor für luft­getragene Spurenmetalle. Systematische Untersuchung und regionale Anwendungsbeispiele. Diss. TU Bergakademie Freiberg. URL: http://webdoc.sub.gwdg.de/ebook/diss/2003/tu-freiberg/archiv/html/GeowissenschaftenLambrechtSusanne050388.pdf

2) Ranković, B. & Kosanić, M. 2012. Antimicrobial activities of different extracts of Lecanora atra, Lecanora muralis, Parmelia saxatilis, Parmelia sulcata and Parmeliopsis ambicua. – Pak. J. Bot. 44(1): 429–433.

3) Ranković, B. R., Kosanić, M. M. & Stanojković, T. P. 2011. Antioxidant, antimicrobial and anticancer activity of the lichens Cladonia furcataLecanora atra and Lecanora muralis. BMC Complementary and Alternative Medicine 11, Article 97. URL: https://bmccomplementmedtherapies.biomedcentral.com/articles/10.1186/1472-6882-11-97

Wirth, V., Hauck, M. & Schultz, M. 2013. Die Flechten Deutschlands. – E. Ulmer, Stuttgart.

 

Bilder von Lecanora muralis

Durch Anklicken der Bilder öffnet sich jeweils eine größere bzw. vollständige Bild-Version.

1 Lecanora muralis Roettenbach 2020 11 2 small

Typisches Habitat von Lecanora muralis: Hofeingang in Röttenbach/Franken [W. v. Brackel].
 

2 Lecanora muralis Roettenbach 2020 11 1 small

Großes, reichlich fruchtendes Lager von Lecanora muralis auf Kunststein; Röttenbach/Franken [W. v. Brackel]. Bild in maximaler Auflösung runterladen..

3 Lecanora muralis Riem 03 small

Bei ungestörtem Wachstum sterben die alten Rosetten im Inneren ab. Riem/Oberbayern [W. v. Brackel].

4 Lecanora muralis Riem 08 small

Gelegentlich wachsen im Inneren des alten, absterbenden Lagers neue Lager heran; Riem/Oberbayern [W. v. Brackel].

5 Lecanora muralis Straubing 04 an Holz small

Vereinzelt findet sich Lecanora muralis auch an altem bearbeiteten Holz; Straubing/Niederbayern [W. v. Brackel].

 

OLYMPUS DIGITAL CAMERA

In natürlicher Umgebung sind die Rosetten von Lecanora muralis randlich oft stärker zerteilt und ärmer an Fruchtkörpern; Nordheimer Gipshügel/Franken [W. v. Brackel].

 

Lecanora muralis Borke DuesseldReisholz NJS small

In  staubbelasteten Gebieten, wie hier im Industriegebiet Düsseldorf-Reisholz, besiedelt Lecanora muralis zuweilen auch die Stammbasis oder gar den Mittelstamm von Alleebäumen. Im Gegensatz zu den hübschen Rosetten auf glatten Gesteinsplatten schmiegt sich die Flechte hier an die Unebenheiten der Borke und die hier sogar überwachsene Flechte Phaeophyscia orbicularis an. Letztere ist bestens an die Lebensbedingungen in Zentrum einer Großstadt oder in einem Industriegebiet bestens adaptiert. Beide Lebensräume sind infolge der oft weitgehenden Oberflächenversiegelung stark überwärmt: Bild in höherer Auflösung runterladen [N..J. Stapper].

Lecanora muralis Reisholz 3D NJS small

Mittels Stapelbildverarbeitung angertigte dreidimensionale Ansicht des oben gezeigten Lagers von Lecanora muralis an Borke im Industriegebiet Düsseldorf-Reisholz [N..J. Stapper]. Tipp: Das Bild vor dunklem Hintergrund auf maximal 12 cm Höhe einstellen und dann aus mindestens 60 cm Entfernung mit entspannten, also auf unendlich" eingestellten Augen betrachten - "durch den Monitor und das Bild hindurch hindurch in die Ferne schauen". Dadurch sieht man bald drei statt nur dieser zwei Bilder, von denen das mittlere das zum 3D-Bild fusionierte Bild ist. Oft klappt das nicht beim ersten Mal. Falls erforderlich, Lese- oder Monitor-Brille verwenden.