Texte von Wolfgang von Brackel, Alfons Schäfer-Verwimp & Matthias Schultz.

Die Bildautoren sind in [Klammern] angegeben.
Stand: Dezember 2021

Copyright-Hinweis: Eine Verlinkung zu unserer Homepage bzw. direkt zu dieser Seite sowie ein Abdruck der hier gezeigten Bilder in Naturschutz-relevanten Druckwerken ist bei Nennung des jeweiligen Bildautors und der BLAM e. V. ausdrücklich erwünscht!

Die Rechte an den Bildern verbleiben bei den jeweiligen Autoren.
Über Belegexemplare freuen wir uns. Rückfragen zu Moos und Flechte des Jahres richten Sie bitte an Wolfgang von Brackel.

Unter von häufigen taxonomischen Änderungen genervten Botanikern kursiert der Spruch: „Die deutschen Pflanzennahmen wechseln von Ort zu Ort, die wissenschaftlichen Namen von Jahr zu Jahr“. Für 2022 wurden deshalb mit der Zähen Leimflechte (Enchylium tenax) und dem Sparrigen Kleingabelzahnmoos (Diobelonella palustris) zwei Arten ausgewählt, anhand derer die häufigen taxonomischen Änderungen dargestellt werden. Während die Flechte eine in Deutschland häufige, wenngleich oft übersehene Art ist, wird das auf hoch gelegene Quellfluren oder Bachränder beschränkte Moos selbst in ihren Kerngebieten in den Alpen und den höheren Mittelgebirgen immer seltener.

Seit Carl von Linné Mitte des achtzehnten Jahrhunderts die Grundlagen der modernen Taxonomie entwarf, gilt für alle Organismen die binäre Nomenklatur: der zweiteilige Name jeder Art setzt sich aus der Gattung (z.B. „Rosa“ für alle Rosen) und dem Artattribut (z.B. „multiflora“ für „Vielblütige“) zusammen. Das Ziel dabei ist zum einen die Eindeutigkeit des Namens (ein international gültiger Name für jede Art) und zum anderen das Widerspiegeln der natürlichen Verwandtschaft (in der Gattung sind die miteinander nahe verwandten Arten versammelt).

Wie bei den Blütenpflanzen und in vielen Tiergruppen auch haben sich die wissenschaftlichen Namen der Arten in den letzten gut 20 Jahren vielfach geändert. Das wird oft beklagt, soll doch der wissenschaftliche Name einer Art stabil sein. Das ist der „Service“, den die Taxonomie und Systematik für andere Forschungszweige wie die Ökologie, aber auch für den praktischen Umwelt- und Naturschutz leistet. Tatsächlich hat es jedoch seit der Etablierung der binomialen Nomenklatur vor ca. 250 Jahren stets Namensänderungen gegeben. Diese waren anfangs mehr Ausdruck der unter den Koryphäen ihrer Zeit unterschiedlichen Auffassungen zu Artabgrenzung und Gattungszugehörigkeit; nicht immer liegt diese so offensichtlich auf der Hand wie etwa bei den Rosen, die auch der Laie ohne Schwierigkeiten von der verwandten Gattung Rubus (Brombeeren, Himbeeren) unterscheiden kann.

Später war es dann der wissenschaftliche Erkenntnisfortschritt, der zu Namensänderungen führte. Dazu trug vor allem die Möglichkeit bei, durch molekulargenetische Methoden Verwandtschaften viel eindeutiger erkennen zu können als allein durch äußere Merkmale. In den letzten 20 Jahren sind wohl so viele Namensänderungen wie nie zuvor nötig geworden – und dieser Prozess dauert noch an. Die Taxonomie der Arten, also ihre wissenschaftlich exakte und nachvollziehbare Umschreibung sowie die damit verknüpfte Klassifikation in Gattungen und Familien nach phylogenetischen Verwandtschaftsprinzipien werden heute unter Berücksichtigung morphologischer, anatomischer und molekularer Merkmale überprüft.

Die Zähe Leimflechte, Enchylium tenax, ist die Flechte des Jahres 2022

Die Zähe Leimflechte bildet kleine Lager von wenigen Zentimetern Größe auf Pionierstandorten offener Böden. Als typische Gallertflechte quillt sie bei feuchter Witterung stark auf und ist dann gut zu erkennen, während sie in trockenem Zustand sehr unauffällig erscheint.

Aussehen

Enchylium tenax (Foto: Matthias Schultz)Zum ersten Mal ist mit der Zähen Leimflechte oder Enchylium tenax eine sogenannte Gallertflechte zur Flechte des Jahres gewählt worden. Diese Flechten sind schwärzlich gefärbt, klein und daher eher unauffällig, weshalb sie oft übersehen werden.

Enchylium tenax bildet kleine, blättrige Lager von wenigen Zentimetern Größe. Die Loben sind am Rand oft markant verdickt-gefaltet und liegen relativ flach am Boden. Allerdings bilden die Lappen oft zahlreiche aufrechte Lobuli und ihre ursprüngliche Gestalt geht zunehmend verloren. Die Flechte kann daher sehr variabel erscheinen. Gelegentlich findet man grau bereifte Lager oder solche mit sehr feinen, kurz-samtigen Härchen. Diese sind nicht zu verwechseln mit den relativ kräftigen weißlichen Büscheln von Rhizohyphen, die aus der Unterseite und dem unteren Rand der Loben entspringen und die Flechte an der Unterlage befestigen. Bei guter Entwicklung bildet Enchylium tenax tief rote, vor allem feucht attraktive Fruchtkörper, für die man aber durch die Lupe sehen muss! Mikroskopische Schnitte sind aufgrund der knorpeligen bzw. spröden Konsistenz nicht ganz einfach herzustellen. Aber der Blick ins Mikroskop lohnt, vor allem auf die attraktiven perlschnurartigen Nostoc-Ketten. In diesen Ketten fallen neben den blaugrünen Zellen die Heterocyten auf, etwas größere, dickwandige Zellen von gelblicher Farbe.

Vorsicht ist geboten vor Verwechslung mit freilebender Nostoc commune, die auf ähnlichen Standorten ebenfalls einige Zentimeter große Lager ausbilden kann. Das Auftreten von Fruchtkörpern oder, im mikroskopischen Schnitt oder Quetschpräparat, von Pilzhyphen, schafft Klarheit.

Ökologie

Als terricole Flechte besiedelt sie offene Stellen mit sandig-humosen bis tonig-lehmigen basenreichen Böden und stark herabgesetzter Konkurrenz durch Gefäßpflanzen. In Gebirgen mit kalkhaltigen Gesteinen siedelt sie mit Moosen in erdgefüllten Felsspalten und kann von dort aus gelegentlich auch auf Gestein übergehen. Es ist eine Pionierflechte, die auch an gestörten Stellen wie Wegrändern, Deichen sowie an ungepflegten Mauern vorkommt, aber auch gern in Pflasterfugen in Siedlungsnähe wächst. Enchylium tenax kann oft in Begleitung anderer unauffälliger Gallertflechten angetroffen werden, z.B. Blennothallia crispa (die bis vor Kurzem Collema crispumhieß) und Lempholemma chalazanum.

Die Heterocyten stellen einen speziellen Zelltyp dar, in dem Luftstickstoff zu pflanzenverfügbarem Nitrat umgewandelt wird. Darin liegt die große ökologische Bedeutung der Gallertflechten. Viele sind Pionierflechten und leben auf Rohböden, wo sie über die Zeit für eine Anreicherung mit Stickstoff sorgen und so den Weg für die Besiedlung mit konkurrenzkräftigeren aber auch anspruchsvolleren Gefäßpflanzen ebnen.

Verbreitung und Gefährdung

Enchylium tenax ist weltweit in beiden Hemisphären (mit wenigen Nachweisen auf der Südhalbkugel) verbreitet. In Europa reicht ihr Verbreitungsgebiet von Spitzbergen bis Kreta und von der Westküste Irlands bis zum Ural. Die Flechte kommt in Mitteleuropa von der Küste bis in die Alpen vor und ist in Deutschland, der Schweiz und in Österreich ungefährdet; zumindest gebietsweise ist sie häufig.

Biologie

Die Gallertflechten quellen bei Befeuchtung mit Wasser stark auf und nehmen dann eine zäh-knorpelige Konsistenz an. Grund dafür ist die dicke, aus Kohlenhydraten aufgebaute Gallerthülle des cyanobakteriellen Fotosynthesepartners Nostoc. Diese Gallerte wird mehr oder weniger regellos von den zarten Fäden des Pilzpartners durchzogen. Die Gestalt der Flechten wird daher zu einem guten Stück vom cyanobakteriellen Symbiosepartner mitbestimmt. Bei trocken-heißer Witterung jedoch schrumpfen solche homoiomer, d.h. ungeschichtet gebauten Flechten stark zusammen und ihre Thalli (Lager) werden spröde.

Parasiten

Enchylium ist als Wirt einiger flechtenbewohnender Pilze bekannt: Didymellopsis pulposiEndococcus pseudocarpusPronectria tenacisPyrenochaeta collematis und Stigmidium collematis.

Namensgeschichte

Die Zähe Leimflechte war ca. 200 Jahre lang unter dem wissenschaftlichen Namen Collema tenax geläufig. Sie kann beispielhaft dafür stehen, dass neue und verbesserte Erkenntnisse über die Verwandtschaft der Arten und die Evolution ihrer Merkmale eben auch in der Namensgebung Widerhall finden. Schon 1784 unter dem Namen Lichen tenax Sw. erstmals beschrieben, wurde sie 1797 als Lichen pulposus Bernh. ein weiteres Mal beschrieben. In Erik Acharius‘ monumentaler „Lichenographia universalis“ von 1810 taucht sie dann zweimal auf, als Collema tenax (Sw.) Ach. und Collema pulposum Ach. Letzterer Name war nötig geworden, da es bereits ein Lichen pulposus J.F.Gmel. von 1792 gab – eine andere Flechtenart! Acharius wusste, dass zwei verschiedene Arten nicht denselben Namen tragen durften und führte daher einen Ersatznamen ein. Damit hatte er zwar ein Problem beseitigt, jedoch ein anderes geschaffen. Acharius‘ Artkonzept war viel zu kleinteilig und erst später wurde durch taxonomische Revisionen erkannt, dass Collema tenax und Collema pulposum Namen für ein und dieselbe, zugegeben vielgestaltige Art sind. Nur der Vollständigkeit halber soll erwähnt werden, dass die Flechte Enchylium tenax in gut 200 Jahren fast 30-mal mit unterschiedlichen Artennamen beschrieben wurde, die vielen Umkombinationen in unterschiedliche Gattungen und verschiedene Rangstufen wie Varietäten und Formen nicht mitgezählt! Dank der ebenso umfangreichen wie vorbildlichen Revision der Gattung Collema durch den schwedischen Lichenologen Gunnar Degelius von 1954 brauchen wir uns um diese vielen Namen heute kaum mehr zu kümmern, denn sie sind als Synonyme erkannt. Bleibt zu berichten, wie es zur Umbenennung von Collema tenax zu Enchylium tenax kam. Ein internationales Team von Spezialistinnen und Spezialisten für Gallertflechten konnte 2013 zeigen, dass die mit über 80 Arten große und weltweit verbreitete Gattung Collema nicht monophyletisch ist, d.h. dass nicht alle in ihr vereinten Arten auf denselben Vorfahren zurückgehen. Genau das ist heute aber das allgemein anerkannte Kriterium für die Systematik und darauf aufbauende Klassifikation der Taxa (Arten, Gattungen und Familien). Die Gattung Collema wurde neu umschrieben und dabei präziser und deutlich enger gefasst. Die Arten der Collema tenax-Gruppe (und die einiger anderer Teilgruppen auch) mussten jedoch aus Collema ausgegliedert und in eine andere Gattung überführt werden, da sie nicht mit dem neu definierten Kern der Gattung nächst verwandt sind. Für die Arten der Collema tenax-Gruppe war die Gattung Enchyliumverfügbar. Samuel Frederick Gray hatte sie 1821 für insgesamt elf Arten eingeführt und auch Collema tenax bereits zu Enchylium tenaxumkombiniert. Allerdings fand Grays Enchylium danach kaum Anerkennung in der wissenschaftlichen Literatur. Ein Grund mag sein, dass Enchylium in Grays Umschreibung nach heutigem Wissen nicht einheitlich ist, also nicht nur nächst verwandte Arten enthält. Das Problem wurde durch die Typifizierung gelöst, d.h. die Festlegung des Namens Enchylium mit der Art Collema tenax. Damit konnte Enchylium auf die miteinander nächst verwandten Arten der Collema tenax-Gruppe beschränkt werden. Der „Preis“ waren die notwendigen Namensänderungen. Gewonnen wurde eine morphologisch und molekular gut begründete und stabile Gattung für im Moment etwa zehn Arten.

Links

https://www.afl-lichenologie.fr/Photos_AFL/Photos_AFL_E/Enchylium_tenax.htm

https://en.wikipedia.org/wiki/Collema_tenax

Literatur

Cannon, P., Otálora, M.A.G., Košuthová, A., Wedin, M., Aptroot, A., Coppins, B. & Simkin, J. 2020. Peltigerales: Collemataceae, including the genera BlennothalliaCallomeCollemaEnchyliumEpiphloeaLathagriumLeptogiumPseudoleptogiumRostania and Scytinium. ‒ Revisions of British and Irish Lichens 2: 1-38. DOI: 10.34885/174. URL: https://www.britishlichensociety.org.uk/sites/www.britishlichensociety.org.uk/files/Collemataceae.pdf

Degelius, G. 1954. The lichen genus Collema in Europe: Morphology, Taxonomy, Ecology. – Symbolae Botanicae Upsaliensis 13(2): 1–499.

Wirth, V., Hauck, M. & Schultz, M. 2013. Die Flechten Deutschlands. – E. Ulmer, Stuttgart.

Bilder von Enchylium tenax

Durch Anklicken der Bilder öffnet sich jeweils eine größere bzw. vollständige Bild-Version.

Enchylium tenax in trockenem Zustand, Habitus; Speicherbecken Wendefurth, Harz [M. Schultz]

Enchylium tenax in trockenem Zustand, Habitus; Speicherbecken Wendefurth, Harz [M. Schultz]

Enchylium tenax in feuchtem Zustand, Habitus; Speicherbecken Wendefurth, Harz [M. Schultz]

Enchylium tenax in feuchtem Zustand, Habitus; Speicherbecken Wendefurth, Harz [M. Schultz]

Enchylium tenax in trockenem Zustand, Detail mit Apothecien; Blauer See, Harz [M. Schultz]

Enchylium tenax in trockenem Zustand, Detail mit Apothecien; Blauer See, Harz [M. Schultz]

Enchylium tenax in feuchtem Zustand, Detail mit Apothecien; Blauer See, Harz [M. Schultz] 

Enchylium tenax in feuchtem Zustand, Detail mit Apothecien; Blauer See, Harz [M. Schultz]

Enchylium tenax, Querschnitt durch das Lager mit Pilzhyphen und Ketten des Cyanobacteriums Nostoc [M. Schultz]

Enchylium tenax, Querschnitt durch das Lager mit Pilzhyphen und Ketten des Cyanobacteriums Nostoc [M. Schultz]

Enchylium tenax, Querschnitt durch das Hymenium mit Asci und Ascosporen [M. Schultz]

Enchylium tenax, Querschnitt durch das Hymenium mit Asci und Ascosporen [M. Schultz]

Enchylium tenax, Habitus; Aggenstein in den bayerischen Alpen [W. v. Brackel]

Enchylium tenax, Habitus; Aggenstein in den bayerischen Alpen [W. v. Brackel]

Collema tenax aus einem Pflasterritz in Leverkusen, trockenes Material, Ober- und Unterseite; Foto: Andrea Berger

Enchylium tenax, Habitus; von anhaftendem Schmutz gereinigtes, trockenes Material aus einem Pflasterritz in Leverkusen; Ober- und Unterseite  [Andrea Berger]

Enchylium tenax, Habitus, von anhaftendem Schmutz gereinigtes Material aus einem Pflasterritz in Leverkusen; Foto: Andrea Berger

Enchylium tenax, Habitus; von anhaftendem Schmutz gereinigtes Material aus einem Pflasterritz in Leverkusen  [Andrea Berger]

Enchylium tenax zwischen Moosen; Nordheimer Gipshügel, Mittelfranken [W. v. Brackel]

Enchylium tenax zwischen Moosen; Nordheimer Gipshügel, Mittelfranken [W. v. Brackel]

Enchylium tenax auf Gipsrohboden; Wüstphüler Gipshügel, Mittelfranken [W. v. Brackel]

Enchylium tenax auf Gipsrohboden; Wüstphüler Gipshügel, Mittelfranken [W. v. Brackel]

Enchylium tenax, kurz samtig behaarte Form; Hochschwarzeck in den bayerischen Alpen [M. Schultz; Beleg: W. v. Brackel]

Enchylium tenax, kurz samtig behaarte Form; Hochschwarzeck in den bayerischen Alpen [M. Schultz; Beleg: W. v. Brackel]

Das Sparrige Kleingabelzahnmoos, Diobelonella palustris, ist das Moos des Jahres 2022

Das sparrige Kleingabelzahnmoos bildet weiche, gelbgrüne Rasen und ist mit seinen aus breitscheidigem Grund sparrig zurückgekrümmten zungenförmigen Blättern eine auffällige Erscheinung in nährstoffarmen Quellfluren oder ähnlichen Lebensräumen.

Aussehen

Diobelonella palustris; Schottland/UK [M. Lüth]Die Art tritt in 1‒10 cm großen, weichen, gelbgrünen Rasen auf. Die Stängel sind aufrecht und gleichmäßig spiralig beblättert. Die sparrig zurückgebogenen Blätter sind zugespitzt zungenförmig und verschmälern sich aus breit-scheidiger Basis in eine teilweise kapuzenförmige, meist stumpfliche Spitze. Die dünne Rippe schwindet vor der Spitze, die Blattzellen sind locker, glatt bis schwach mamillös, dünnwandig und verlängert, nach der Spitze zu werden sie kürzer. Die Art fruchtet selten, dann trägt die rote Seta eine geneigte, hochrückige Kapsel. Gelegentlich treten rundliche, rötlich-braune Rhizoidgemmen auf.

Verwechslungen sind möglich mit den oberflächlich ähnlichen Arten Meesia triquetra und Paludella squarrosa, die aber deutlich seltener sind und in basenhaltigen Übergangsmooren vorkommen. Das ebenfalls ähnliche, basenliebende Dichodontium pellucidum, auch an feuchten bis nassen Standorten vorkommend und weiter verbreitet, ist durch gezähnte, nicht scheidige Blätter und mamillös-papillöse, isodiametrische Blattzellen zu unterscheiden.

Ökologie

Diobelonella palustris ist eine kalkmeidende Art und wächst in montan-subalpinen Quellfluren sowie an Bach- und Grabenrändern. Die Art ist sehr empfindlich gegenüber Austrocknung und an kalte Standorte mit einer Jahresdurchschnittstemperatur von etwa 4°C angepasst.

Verbreitung und Gefährdung

Die Art ist über die Nordhalbkugel verbreitet (Europa, Nordamerika, Asien). In Europa kommt sie von Spitzbergen bis nach Sizilien und von der irischen Westküste bis zum Kaukasus vor. In Mitteleuropa tritt sie vor allem in den höheren Mittelgebirgen und in den Alpen auf, vom Harz bis in die Südalpen; Eine Verbreitungskarte für Deutschland findet sich bei Meinunger & Schröder (2007). Häufig ist sie nur in den Zentralalpen, wo sie von Tallagen um 300 m vereinzelt bis 2800 m aufsteigt (Müller & Roloff 2021, mit Verbreitungskarte für die Schweiz). Die Bestände in den Mittelgebirgen gehen deutlich zurück. Deutschlandweit ist die Art als „gefährdet“ eingestuft, in der Schweiz und in Österreich ist sie nicht bzw. nur regional gefährdet.

Ursachen für die Gefährdung sind Entwässerungen von Mooren und Quellfassungen sowie Verbuschung und Bewaldung von Wiesenmooren. Wahrscheinlich wird die Art auch ein Verlierer des Klimawandels sein, da auch die Quellen immer wärmer werden.

Biologie

Die Art fruchtet in Mitteleuropa selten, dennoch ist sie mancherorts in der Lage, Sekundärhabitate wie nasse Wegränder oder Straßengräben relativ schnell zu besiedeln.

Namensgeschichte

Die Art hat eine reiche nomenklatorische Geschichte hinter sich. Bereits 1801 von Dickson als Bryum palustre und zwei Jahre später von Starke als Dicranum squarrosum beschrieben, wurde der zweite Name bereits 1804 wieder eingezogen. 1871 hat Hampe die Gattung Diobelon aufgestellt und zwei Jahre später in seiner Flora Hercynica den Namen Diobelon squarrosum für unsere Pflanze verwendet. Da sich der Gattungsname Diobelon als illegitim herausstellte, wurde auch die von Lindberg 1879 verwendete Kombination unter Anisothecium als A. squarrosum hinfällig. Erst 1915 wurde von Hagen die Art zu Anisothecium gestellt. Diese Gattung basiert gänzlich auf Sporophytenmerkmalen, galt deshalb oft als schwach begründet und wird aktuell kaum noch anerkannt. Fast 50 Jahre später (1962) wurde dann unsere Pflanze zu Dicranella (Kleingabelzahnmoos) gestellt, zu der sie morphologisch allerdings genauso wenig gut passt wie zur Gattung Anisothecium, die als Synonym von Dicranella betrachtet wird. Erste genetische Untersuchungen von Stech (1999) zeigten, dass die Art näher bei Dichodontium (Paarzahnmoos) steht, weshalb sie in diese Gattung als Dichodontium palustre umkombiniert wurde. Ochyra et al. (2003) weisen jedoch auf die anatomischen Unterschiede hin und bringen unsere Art in der neuen Gattung Diobelonella unter. In einer neueren genetischen Untersuchung (Santos et al. 2021) steht Diobelonella neben Dichodontium als eigene Gattung und wird zur Familie der Aongstroemiaceae gerechnet, zuvor auch in den Familien Dicranaceae und Dicranellaceae geführt. Erst kürzlich wurde eine zweite Art aus tropischen Gebirgen Asiens, Diobelonella rotundata, zu dieser Gattung gestellt.

Links

https://www.gbif.org/species/7598487

https://de.wikipedia.org/wiki/Diobelonella_palustris

https://swissbryophytes.ch/index.php/de/verbreitung?taxon_id=nism-1173

 

Literatur

Meinunger, L. & Schröder, W. 2007. Verbreitungsatlas der Moose Deutschlands. − 3 Bde., Regensburg.

Müller, N. & Roloff, F. 2021. Diobelonella palustris (Dicks.) Ochyra. ‒ In: Swissbryophytes Working Group (Hrsg.) Moosflora der Schweiz. ‒ www.swissbryophytes.ch, compiled 01/02/2021. https://doi.org/10.5167/uzh-204194

Ochyra, R., Źarnowiec, J. & Bednarek-Ochyra, H. 2003. Census Catalogue of Polish Mosses. ‒ Polish Academy of Sciences, Institute of Botany, Kraków.

Santos, M.B., Fedosov, V., Hartman, T., Fedorova, A., Siebel, H. & Stech, M. 2021. Phylogenetic inferences reveal deep polyphyly of Aongstroemiaceae and Dicranellaceae within the haplolepideous mosses (Dicranidae, Bryophyta). ‒ Taxon 70(2): 246-262. DOI: 10.1002/tax.12439.

Sauer, M. 2001. Dicranaceae. – In: Nebel, M. & Philippi, G. (Hrsg.) Die Moose Baden-Württembergs. – 3 Bände, Stuttgart.

Stech, M. 1999. Dichodontium palustre (Dicks.) Stech comb. nov., a new name for Dicranella palustris (Dicks.) Crundw. ex Warb. (Dicranaceae, Bryopsida). ‒ Nova Hedwigia 69(1-2): 237-240.

 

Bilder von Diobelonella palustris

Durch Anklicken der Bilder öffnet sich jeweils eine größere bzw. vollständige Bild-Version.

Diobelonella palustris; Feldberg, Schwarzwald [M. Lüth]

Diobelonella palustris; Feldberg, Schwarzwald [M. Lüth]

Diobelonella palustris; Feldberg, Schwarzwald [M. Lüth]

Diobelonella palustris; Feldberg, Schwarzwald [M. Lüth]

Diobelonella palustris, Lebensraum; Highlands, Schottland [M. Lüth]

Diobelonella palustris, Lebensraum; Highlands, Schottland [M. Lüth]

 Diobelonella palustris; Highlands, Schottland [M. Lüth]

Diobelonella palustris; Highlands, Schottland [M. Lüth]

Diobelonella palustris; Gotthard-Pass [M. Lüth]

Diobelonella palustris; Gotthard-Pass [M. Lüth]

Diobelonella palustris, Nordeifel, Wehebachtal, 2002, leg & det JPFrahm & NJStapper; Herbarbelegmaterial, trocken und nass. Foto: NJStapper

Diobelonella palustris; Nordeifel, Wehebachtal, 2002, leg & det JPFrahm & NJStapper; Herbarbelegmaterial trocken und nass, Balken 1 mm [NJ Stapper]

Diobelonella palustris; Nordeifel, Wehebachtal, 2002, Blatt, Mikrofoto [NJ Stapper]

Diobelonella palustris; Nordeifel, Wehebachtal, 2002, Blatt, Mikrofoto [NJ Stapper]

Diobelonella palustris; Nordeifel, Wehebachtal, 2002, Blattbasis, Mikrofoto, Balkenlänge 100 µm [NJ Stapper]

Diobelonella palustris; Nordeifel, Wehebachtal, 2002, Blattbasis, Mikrofoto, Balkenlänge 100 µm [NJ Stapper]

Diobelonella palustris; Nordeifel, Wehebachtal, 2002, Blattspitze, Mikrofoto, Balkenlänge 50 µm [NJ Stapper]

Diobelonella palustris; Nordeifel, Wehebachtal, 2002, Blattspitze, Mikrofoto, Balkenlänge 50 µm [NJ Stapper]