Moose und Flechten in Gründächern - Anpassung an den Klimawandel:

Die Falsche Rentierflechte (Cladonia rangiformis) und das Geneigte Spiralzahnmoos (Tortella inclinata) sind Flechte und Moos des Jahres 2023

Wolfgang von Brackel & Martin Nebel

Die sommerliche Aufheizung unserer Städte ‒ Stichwort „Urbane Hitzeinsel“ ‒ kann durch die Begrünung von Dächern und Fassaden der Gebäude drastisch gemindert werden. Die Pflanzen wirken kühlend durch die Verdunstung von Wasser, darüber hinaus beschatten sie die Oberflächen und dämmen sowohl den Schall als auch die Wärmeübertragung. Und da selbst wenige Millimeter hohe Pflanzenrasen erhebliche Mengen Niederschlagswassers aufnehmen können, glätten Gründächer die Ablaufspitzen bei kurzen Starkregenereignissen und mindern somit die Belastung der Kanalisation. Aufgrund dieser Eigenschaften können Gründächer und begrünte Fassaden bei der Anpassung unserer Städte an die Folgen des Klimawandels eine Schlüsselrolle einnehmen. Da es die Menschheit offenbar nicht schafft, durch die Vermeidung von Emissionen den Klimawandel aufzuhalten, werden sowohl die urbane Überwärmung wie auch die Wahrscheinlichkeit von Starkregenereignissen immer weiter zunehmen.

Das Geneigte Spiralzahnmoos (Tortella inclinata)ist Moos des Jahres 2023 [W. v. Brackel]Neben den für die Dachbegrünung häufig genutzten Blütenpflanzen Mauerpfeffer und Fetthenne (Sedum spp.), Hauswurz (Sempervivum spp.), Schnittlauch (Allium schoenoprasum), Thymian (Thymus spp.), Karthäusernelke (Dianthus carthusianorum) oder Gräsern (v.a. Festuca spp.) sollten Moose und Flechten nicht vergessen werden. Durch ihre Wuchsform und Physiologie verbessern sie die Gesamtleistung des Gründachs:

·       Die meisten Flechten und Moose haben ihr Wuchsoptimum bei deutlich tieferen Temperaturen als Blütenpflanzen. Daher sorgen sie auch im Winterhalbjahr, wenn die Blütenpflanzen weitgehend inaktiv sind, für einen Stoffaustausch (Sauerstoffproduktion und Bindung von CO2).

·       Blütenpflanzen nehmen Wasser nur über die Wurzeln auf; die Aufnahme von Wasser bei Starkregenfällen geschieht hier vor allem über das Substrat (Boden), das bei starker Austrocknung erst langsam aufnahmefähig wird. Der Transport in die Pflanze setzt stark verzögert ein. Moose und Flechten nehmen dagegen das Regenwasser über ihre gesamte Oberfläche auf und das sehr schnell, zudem halten sie zumindest kurzzeitig größere Wassermengen in den Zwischenräumen ihrer Stängel und Blätter zurück. Durch den dicht-polsterigen Wuchs können sie trotz der Kleinheit der einzelnen Pflänzchen große Mengen an Wasser aufnehmen und dann langsam an den Boden abgeben.

·       Während die Wurzeln der Blütenpflanzen vorwiegend nach unten streben und dort ein dichtes Geflecht ausbilden, schaffen Moose, Flechten und andere Organismen der „biological soil crust“ eine Schutzschicht direkt auf der Bodenoberfläche, die stark erosionshemmend wirkt. Nicht zu unterschätzen ist hier das Verkleben von ansonsten lockeren Sandkörnern und anderen Bodenteilchen durch Moos-Protonemata, Pilzhyphen (auch die der Flechten) sowie fädigen Algen und Cyanobakterien.

Die Übertragbarkeit von Flechten und Moosen ist inzwischen durch zahlreiche Versuche belegt. In der Regel genügt es, nicht zu kleine Bruchstücke der Lager bzw. Polster einfach auf den Boden aufzubringen; eine regelmäßige Durchfeuchtung in den nächsten Tagen bzw. Wochen erhöht die Anwachsrate. Etliche Arten siedeln sich auch selbstständig an.

Besonders geeignet sind selbstredend Arten, die auch in der Natur in stark austrocknenden Biotopen wie Halbtrockenrasen vorkommen. Wegen der Fähigkeit, größere Wassermengen zurückzuhalten, sind polster- oder teppichbildende Arten vorzuziehen. Dies sind unter den Moosen etwa Erd-Verbundzahnmoos (Syntrichia ruralis), Graues Zackenmützenmoose (Racomitrium canescens), die große Kalkmagerrasen-Varietät des Zypressen-Schlafmooses (Hypnum cupressiforme var. lacunosum), das Hasenpfotenmoos (Rhytidium rugosum) oder eben unser Moos des Jahres, das Geneigte Spiralzahnmoos. Unter den Flechten bieten sich weniger Arten an, da große polsterbildende Bodenflechten bei uns selten sind. Mit dem Bedingungen auf Dächern dürfte vor allem unsere Flechte des Jahres, die Falsche Rentierflechte, gut zurechtkommen.

Das Geneigte Spiralzahnmoos siedelt sich meist von alleine auf Flachdächern an, die mit einem kalkhaltigen Substrat aus feinerem Kies, Kalksplit, Ziegelbruch oder vulkanischem Material bedeckt sind. Dort breitet sich die Art relativ schnell aus und bedeckt nicht selten die ganze Fläche. Messungen haben ergeben, dass ein Quadratmeter dieses Mooses bis 13,9 l Wasser speichern kann. Auch ein stärkerer Regenguss wird so vollständig aufgenommen. Die große Oberfläche der Moose, bei manchen Arten erreicht sie das 30-fache der Grundfläche, bewirkt, dass das aufgenommene Wasser auch schnell wieder verdunstet, besonders wenn die Sonne scheint, es warm ist und ein Wind weht. So ist das Moos oft schon nach mehreren Stunden so trocken, dass es weiteren Regen aufnehmen kann.

Starkregenereignisse, die in neuester Zeit zugenommen haben, belasten die Kanalisation der Städte erheblich. Für viele Städte bedeute dies, dass die Kanalisation die Wassermengen nicht mehr fassen kann und deshalb ausgebaut werden muss. Für Hamburg sollen sich die Kosten dafür auf bis zu 10 Milliarden Euro belaufen. Bemooste Flächen, nicht nur auf Dächern, können dazu beitragen den Abfluss deutlich zu verringern. Ein Hektar Moosfläche könnte so knapp 140 m³ Regenwasser in kurzer Zeit aufnehmen. Das ist die Menge, die eine 3‒4-köpfige Familie im Jahr an Wasser verbraucht.

Extensives Gründach mit Höheren Pflanzen, Moosen und Flechten_[NJStapper]Ein weiterer Aspekt bei Moosflächen ist die bei der Verdunstung entstehend Abkühlung. Dazu wurde die Verdunstung eines feuchten Moospolsters der Moosart (Ctenidium molluscum), die bei der Wasseraufnahme ähnliche Werte erreicht wie Tortella inclinata, bei 20° und einer relativen Luftfeuchtigkeit von 40-60 % gemessen. Dabei ergab sich eine Verdunstung von 1,8 l Wasser pro m² und Tag. Umgerechnet auf eine 30 m² große Moosfläche, die regelmäßig bewässert wird, würde dies in fünf Monaten (Mai-September) eine Verdunstungsleistung von 4.800 kW/h bedeuten. Das ist mehr als der Stromverbrauch in einem Einfamilienhaus mit 4 Personen (4.500 kW/h pro Jahr).

Unsere Städte sind bis zu 3 Grad wärmer als das Umland. Das Niederschlagswasser verschwindet schnell in der Kanalisation, dadurch sinkt die Luftfeuchtigkeit und die kühlende Verdunstung. Dazu kommt die Wärme aus den Gebäuden. Sonnenstrahlen werden nicht vom Pflanzengrün aufgenommen, sonders reflektiert oder erwärmen den dunkeln Asphalt. Gegen die Erwärmung der Städte hilft grün und blau. Grün steht Pflanzen, meist sind Bäume gemeint, blau für Wasser. Die Moose liefern beides. In Zeiten der Klimaerwärmung brauchen wir jede Hilfe.

Als Wermuttropfen soll hier noch hinzugefügt werden, dass Moose sehr langsam wachsen und nicht leicht zu kultivieren sind. Hierin ist auch der Grund zu suchen, dass Moose nicht in viel größerem Umfang genutzt werden. Es gibt jedoch in den letzten Jahren Fortschritte auf dem Gebiet, die Hoffnung machen. Diese Arbeiten kosten Zeit und Geld. Eine entsprechende Förderung fehlt aber zurzeit.