Die Finger-Scharlachflechte, Cladonia digitata, ist die Flechte des Jahres 2020

Die Finger-Scharlachflechte ist eine durch die roten Fruchtkörper (Apothecien) und die großen, randlich hochgebogenen und unterseits bis zum Rand mehligen Grundschuppen leicht kenntliche Art. Sie findet sich überwiegend auf morschem Holz und am Stammfuß von Bäumen, vor allem von Kiefern, Fichten und Birken.

Aussehen

Wie die meisten Becher-, Säulen- und Scharlachflechten ist die Art in ein grundständiges, schuppiges Lager und ein aufrechtes Stämmchen (Podetium) gegliedert. Die dichtstehenden, oft überlappenden Grundschuppen sind bis zu 4–10 mm groß, breit abgerundet, oben glatt und grau bis grünlichgrau, unten bis zu den aufgewölbten Rändern dicht mehlig-sorediös und weißlich. Die sehr unterschiedlich ausgebildeten, im unteren Teil berindeten und im oberen Teil mehlig-sorediösen Podetien können kurz und stiftförmig oder deutlich ausgebildet mit breiten, flachen und geschlossenen Bechern sein; die Becher tragen an den Rändern oder an fingerförmigen Fortsätzen (Name!) rote Fruchtkörper (Apothecien und/oder Pyknidien).

Von ähnlichen rotfrüchtigen Cladonia-Arten (Scharlachflechten) ist die Art durch die Kombination aus sehr großen, gerundeten, unterseits mehlig-sorediösen Grundschuppen und der Ausbildung von Bechern unterschieden. Im Gegensatz zu den meisten anderen Scharlachflechten reagiert das Lager bei Zugabe von Kalilauge gelb.

Ökologie

Die Finger-Scharlachflechte kommt auf sehr unterschiedlichen Substraten vor, denen allen jedoch die Armut an Basen und an Nährstoffen gemein ist. In Mitteleuropa ist ihr wichtigster Wuchsort der Stammfuß von Bäumen mit sauerer Borke, vor allem Kiefern, Fichten und Birken. Daneben werden morsche Baumstümpfe und morsches Totholz, aber auch Rohhumus, Torf und humose Mineralböden sowie Moose besiedelt. Sie bevorzugt einigermaßen hohe Luftfeuchtigkeit, ist aber wenig empfindlich gegenüber Trockenheit. Durch ihre hohe Toxitoleranz und das Vordringen der Nadelholz-Monokulturen konnte sie sich in der zweiten Hälfte des letzten Jahrhunderts in unseren Wäldern ausbreiten.

Verbreitung und Gefährdung

Cladonia digitata ist von der mediterranen bis zur arktischen Zone der nördlichen Halbkugel verbreitet und kommt in Nordamerika, Europa und Asien vor; sie zeigt eine deutliche Präferenz für kühl-temperierte Gebiete. Nur wenige Funde gibt es von der Südhalbkugel (Afrika, Neuseeland).1,2,5) In Europa kommt sie von den höheren Gebirgen Siziliens bis an die Nordspitze von Spitzbergen vor.2,3)

Wegen ihrer weiten Verbreitung, der relativ hohen Toxitoleranz und des Vorkommens auf reichlich vorhandenem Substrat gilt die Art zumindest in Mitteleuropa als nicht gefährdet. Wie sie mit der zunehmenden allgemeinen Eutrophierung und der Klimaerwärmung zurechtkommt, muss die Zukunft zeigen; ein Rückzug aus besonders mit Stickstoffverbindungen belasteten und aus trocken-warmen Gebieten ist zu erwarten.

Biologie

Die Finger-Scharlachflechte verbreitet sich überwiegend über Soredien. Diese vegetativen Verbreitungseinheiten werden auf der Unterseite der Grundschuppen und an den Podetien aus dem Mark gebildet und bestehen aus kleinsten, wattigen Kügelchen, die sowohl Hyphen des Flechten­partners wie auch Algen enthalten. Sie werden dank ihres geringen Gewichts leicht vom Wind verbreitet und können, wo die auf geeignete Bedingungen treffen, wieder zu vollständigen Flechten auswachsen. Unter guten Bedingungen bildet sie auch Apothecien aus und verbreitet sich generativ durch Ascosporen.

Die Art enthält unter anderen sekundären Metaboliten (Inhaltsstoffen) als bekanntesten Thamnolsäure. Zusammen mit den in der Flechte enthaltenen Alkaloiden, Tanninen, Saponinen, Glykosiden, Flavonoiden, Anthraquinonen und Terpenen bildet sie einen antibakteriellen und als Antioxidans wirkenden Cocktail.5) Möglicherweise schützt der Gehalt an Thamnolsäure die Flechte auch vor hoher Belastung durch Säure, was ihre Toxitoleranz erklären würde.6)

Parasiten, Nutzung und Medizin

Cladonia digitata ist als Wirt einer Vielzahl flechtenbewohnender Pilze bekannt: Arthonia coronata, Arthrorhaphis aeruginosa, Chaenothecopsis nana, C. parasitaster, Chalara lichenicola, Cornutispora lichenicola, Didymocyrtis cladoniicola, Lichenoconium erodens, L. pyxidatae, Lichenosticta alcicorniaria, Lichenostigma maureri, Niesslia keissleri, Phaeopyxis punctum (siehe entspr. Makrofoto in der Sektion Bilder), Polycoccum cladoniae, P. microcarpum, Sphaerellothecium cladoniae und Talpapellis beschiana. Am häufigsten wird sie jedoch von Arthonia digitatae und Milospium lacoizquetae befallen, die gerne zusammen vor allem auf den Grundschuppen auftreten und dort eine typische Braunfärbung verursachen.

Wegen der antimikrobiellen Wirkung ihrer Inhaltsstoffe wird die Flechte (wohl zusammen mit anderen Arten) in der traditionellen afrikanischen Medizin (Zimbabwe) zur Wundbehandlung eingesetzt.5)

[Wolfgang von Brackel]

Cladonia digitata im Internet (externe Angebote)

1) https://www.gbif.org/species/2607722 [weltweite Verbreitungskarte]

2) https://lichenportal.org/cnalh/taxa/index.php?taxauthid=1&taxon=53403&clid=1212 [Beschreibung, Verbreitungskarte]

3) http://dryades.units.it/italic/index.php?procedure=taxonpage&num=617 [Beschreibung, reiche Bildergalerie]

4) http://www.lichens.lastdragon.org/Cladonia_digitata.html [Bibliographie, schöne Bildergalerie]

Literatur

5) Dzomba, P., Togarepi, E. & Musekiwa, C. 2012. Phytochemicals, antioxydant and antibacterial properties of a lichen species Cladonia digitata. – African Journal of Biotechnology 11: 7995–7999.

6) Hauck, M., Jürgens, S.-R., Huneck, S. & Leuschner, C. 2009. High acidity tolerance in lichens with fumarprotocetraric, perlatolic or thamnolic acids is correlated with low pKa1 values of these lichen substances. – Environmental Pollution 157: 2776–2780.

James, P.W. 2009. Cladonia P. Browne. – In: Smith, C. W., Aptroot, A., Coppins, B. J., Fletcher, A., Gilbert, O. L., James, P. W. & Wolseley, P. A. (Eds). The Lichens of Great Britain and Ireland. – British Lichen Society, London: 309–339.

Wirth, V., Hauck, M. & Schultz, M. 2013. Die Flechten Deutschlands. – E. Ulmer, Stuttgart.

 

Bilder von Cladonia digitata

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Cladonia digitata, Becher mit fingerförmigen Fortsätzen und Apothecien; Neumühlschlag, Nürnberger Reichswald, Bayern; Foto: Wolfgang von Brackel.

 

Cladonia digitata Markwald 2019 11 16 3WvBCladonia digitata, Lager aus Grundschuppen mit Podetien, Markwald bei Erlangen, Bayern; Foto: Wolfgang von Brackel. Dieses Bild runterladen

 Cladonia digitata Markwald 2019 11 16 18b WvBCladonia digitata, Lager aus Grundschuppen mit Podetien und Pyknidien an fingerförmigen Fortsätzen, Markwald bei Erlangen, Bayern;
Foto: Wolfgang von Brackel. Dieses Bild runterladen

 Cladonia digitata NJS 9855 Cladonia digitata an einem verrottenden Baumstamm, BLAM-Exkursion 2019, Mauterndorf/A;
Foto: Norbert J. Stapper Dieses Bild runterladen

 cladonia digitata winterlhtte nov 2017 9 bearbeitet ohne Rahmen smallCladonia digitata, Größenvergleich Grundschuppe : Daumenspitze; Foto: Walter Obermayer.

cladonia digitataphaeopyxis punctum koenigreich 01Cladonia digitata mit lichenicolem Pilz Phaeopyxis punctum; Foto: Walter Obermayer. Dieses Bild runterladen